Zusammenfassung

Das Théâtre du Peuple : von 1895 bis heute

 

Der Gründer: Maurice Pottecher (1867-1960)

Die Saison des Théâtre du Peuple gehört seit dem Sommer 1895 zum Leben Bussangs und seiner Einwohner. Damals führte dessen Gründer, Maurice Pottecher, ein junger Dichter, Sohn und Enkel hiesiger Industrieller, ein erstes Theaterstück auf einer Wiese auf, an der Stelle, wo heute das Theater steht.

 

  • Leben in Paris

Maurice Pottecher fing in Paris ein Studium in einer Zeit an, in der Literaturgrößen wie Léon Daudet, Edmond de Goncourt, Jules Renard, Paul Claudel das kulturelle Leben bestimmten. Er war als Zeitungsredakteur beim Echo de Paris, als Theater- und Musikkritiker bei der République française tätig und hegte bald eigene Ambitionen als Theaterdichter. Dabei berief er sich auf den Humanismus des antiken oder des elisabethanischen Theaters sowie auf den Naturalismus seiner Zeit.  Sein erstes Stück Le Diable marchand de goutte -Der Teufel als Schnapshändler-, noch im Stil des Symbolismus geschrieben, erfreute sich im Theatermilieu einer gewissen Anerkennung.  

Nachdem er die Turbulenzen in der Pariser Bühnenwelt miterlebt hatte, wandte er sich einer neuartigen, publikumsnahen Theaterform zu. Jene sollte die ethischen Werte vertreten, die ihm am Herzen lagen: „Ein Theater, das jeder Art Publikum zugänglich wäre, eine Unterhaltungsform, die die Menschen näherbringen und alle sozialen und kulturellen Unterschiede tilgen könnte“.

 

  • Rückkehr nach Bussang

Maurice Pottecher pflegte den Sommer in Bussang, seinem Geburtsdorf, zu verbringen. Im Sommer 1895 schrieb er Le Diable marchand de goutte. Dieses Stück brachte er anschließend mit der Hilfe seiner Ehefrau, der Schauspielerin Camille de Saint-Maurice, zu einer einmaligen Aufführung auf die Bühne. Camille, später von den Dorfbewohnern liebevoll „Tante Camm“ genannt, sollte für das Lebenswerk ihres Mannes eine wesentliche Rolle spielen, sowohl bei den Inszenierungen als auch bei der Auswahl der Schauspieler.

Am ersten September 1895 fand die Aufführung mit großem Erfolg vor 2000 Zuschauern statt.  Die Hauptrollen wurden von Angehörigen Maurice Pottechers, die Neben- und Statistenrollen von Dorfbewohnern und Fabrikarbeitern aus der Umgebung besetzt.   

 

  • Vorkämpfer des „Volkstheaters“

Sein ganzes Leben lang strebte Maurice Pottecher danach, aus seinem „Théâtre du Peuple“ ein allgemein zugängliches Volkstheater zu machen, das nicht einer einzigen Bevölkerungsgruppe vorbehalten wäre.  

„Unter ‚Volkstheater‘ verstehe ich ein Theater, in demdie verschiedenen Elemente, aus denen ein Volk besteht, sich zusammenfügen und sich gleichermaßen für das aufgeführte Werk interessieren.“

So entschlossen der Dramatiker darauf bestand, allen Zuschauern das Theater zugänglich zu machen, ebenso entschlossen bestand er darauf, gewisse Rollen Laienschauspielern anzuvertrauen.

Maurice Pottecher hatte bestimmt nicht vor, eine neue nationale Theaterbewegung anzuregen, doch kann er als Begründer einer Volkstheateridee gelten, die später von Firmin Gémier, Jacques Copeau, Jean Vilar oder Jean Dasté weiterentwickelt und umgesetzt wurde. 

Ihm widmete Roman Rolland sein Essai Le Théâtre du Peuple und über ihn schrieb Jean Vilar am 9 März 1958:

„Schon für unsre großen Vorgänger war das Werk Maurice Pottechers ein Beispiel, ein pures Beispiel für ein Volkstheater. Und das bleibt es auch heutefür uns. Bussang ist ein bewegendes Unternehmen, im besten Sinne des Wortes eine Lehre.“

 

Das Bauwerk: Einflüsse und Chronologie

Der Wunsch, die ganze Bevölkerung in sein Theatervorhaben mit einzuschließen und der Erfolg seines ersten Stückes regten Maurice Pottecher dazu an, eine eigene Theaterbühne zu bauen. Zweifelsohne entspricht dieses Bauwerk dem Geist, den er zu fördern suchte. Dazu tragen Standort, Name, Hauptbaustoff und sogar das Motto konsequent bei. So profiliert sich die Stadt Bussang im Herzen des Vogesen-Massivs, weit entfernt vommondänen Treiben in Paris und von allen anderen geographisch unerreichbaren Theatern.

Diese Idee spiegelt selbst der Name „Théâtre du Peuple“ wider. So stellte Pierre-Richard Willms, Maurice Pottechers erster Nachfolger an der Theaterleitung, fest:

„Dieser Name, diese Bezeichnung, wurde von den einen so hoch gelobt (im Foyer wurde respektvoll ein Brief aufbewahrt und gezeigt, in dem Tolstoi seine Begeisterung und seine Unterstützung kundtat) und von anderen so missverstanden. Dabei wird nur das benannt, was es ist: ein Theater für alle. Und es war gar keine Utopie! Poeten sind oft klarsichtiger, als man denkt. Von dem Tag seiner Gründung vor einem Dreivierteljahrhundert an bis noch gestern führte dieses Theater lauter anonyme, gutwillige, uneigennützige Menschen zusammen. Und es geschah mit einer Selbstverständlichkeit und Warmherzigkeit, die mich nach so vielen Jahren immer noch verdutzt und tief bewegt. Ähnliches gilt für dieses so treue und so vielfältige Publikum: Arbeiter, Bauern, Städter und Gelehrte verkehren miteinander und lächeln einanderin der Pause im großen schattigen Park an.“  

Gleichermaßen spiegelt die Holzstruktur, ein wesentliches Merkmal des Bauwerkes, Pottechers enge Verbundenheit zu seiner Heimatgegend wider. Zu seiner Zeit war Holz nämlich das meist verfügbare Baumaterial. Dazu erinnert die Architektur den Zuschauer an die vertraute Stimmung der umgebenden Scheunen und Almhütten. Am besten fasst das Motto des Theaters Pottechers  Ideale zusammen: „Par l'art, Pour l'humanité“ - „Durch Kunst für die Menschheit“-.

Allerdings lässt sich Pottechers Theaterauffassung nicht auf die erstrebte Verbundenheit im Volk beschränken. Unter anderen Inspirationsquellen wäre das berühmte Festspielhaus in Bayreuth zu erwähnen, das Richard Wagner nach dem Vorbild der antiken Theater zur Aufführung der eigenen Werke bauen ließ.

                                                                     

    

Wagners Festspielhaus in Bayreuth

„[...] das Theater in Bussang ist kein gewöhnliches Theater. Es ist das ‚Théâtre du Peuple‘, unverkennbar für jeden, der es einmal besuchte. Die recht unbequemen Zuschauerbänke – beinahe Schulbänken gleich-, das Motto ‚Par l'art, Pour l'humanité‘ als zerbrechliche Inschrift aus Baumrinde über dem Bühnenrahmen, die Bühnenrückwand, die sich zum Wald hin öffnen lässt, das Nachmittagslicht, das durch die Dachspalte durchdringt, die von den Dorfgeräuschen getaktete Stille, die Architektur, die zwischen Wagners Festspielhaus, einer Scheune, einer Almhütte und einer Kathedrale zu schwanken scheint…“

aus: VUTRIN Eric, Hôtes et brigands au théâtre du peuple de Bussang in Du théâtre amateur, approche historique et anthropologique, CNRS Editions, Paris 2004

Was die Finanzierung anbelangt, so war der Bau des Theatersaales auf das Mäzenatentum der Pottecher-Familie angewiesen. Zwischen 1895 und 1994 nahm das Gebäude über mehrere Etappen seine heutige Gestalt an: 


1895 Freilichttheater. Nur eine an den Hang gelehnte Bühne wird gebaut.

1896 Feste Bühne (15 Meter breit, 10 Meter tief, 10 Meter hoch). Durch vier große Schiebetüren öffnet sich die Bühnenrückwand zur umliegenden Natur hin. Einbau einer Bodenklappe im Bühnenboden. Sitzbänke für 2000 Zuschauer werden aufgestellt. 

 

1898 Ein Velarium wird über den offenen Zuschauerbereich gespannt. Orchestergrube und Proszenium werden eingebaut.

 

1904 Das Theater wird ans Stromnetz angeschlossen.

1913 Ein Zuschauerbereich wird zwischen einer neu errichteten Zuschauertribüne und der Bühne eingerichtet.

1921-1924 Von der Bussanger Zimmerei Hans wird das Freilichttheater zu einem geschlossenen Theatersaal ausgebaut, der über 1000 Zuschauern Platz bietet. Das Dach wird von freiliegenden Deckenbalken in kühner Spannweite getragen. Vier Proszeniumslogen werden eingebaut. Die Schiebetüren der Bühnenrückwand bleiben erhalten.

1939 Eine Bühnenmaschinerie wird eingebaut, die Kulisse entsprechend ausgestattet. Das Bühnenhaus wird um 6 Meter erhöht, so dass der First nunmehr 20 Meter über dem Bühnenboden liegt.

1945-1950 Der Zuschauerraum erhält einen Holzfußboden. In neuen Anbauten werden Schmink- und Umkleideräume, Schlafräume, eine Nähwerkstatt und der Fundus (Kostüm und Requisiten) untergebracht.  

 

1975 Das Bauwerk wird unter Denkmalschutz gestellt.

1986 Bau einer Dekorationswerkstatt

1994 Der Haupteingang wird renoviert und in seinen Originalzustand zurückversetzt.

2005 Das Theater wird vom französischen Staat erworben.

 

Besondere Merkmale und Traditionen

Die heute legendär gewordene Öffnung der Schiebetüren an der Bühnenrückwand war dem Theatergründer eine Selbstverständlichkeit. 1895 wurde Le Diable marchand de goutte auf einem Bühnengestell mitten auf einer Wiese am Fuß eines Hügels gezeigt. Bei der festen Bühne wird der ursprüngliche Einklang von Kunst und Natur dank der großen Schiebetüren aufrechterhalten: deren Öffnung ermöglicht, sowohl auf der Bühne als auch am Berghang selbst zu spielen. Seit der Theatergründung ist sie Bestandteil jeder Inszenierung in Bussang (mit Ausnahme der Aufführungen des Pottecher-Stückes L'Anneau de SakountalaDer Ring der Shakuntala - im Jahre 1922). Inzwischen ist diese Besonderheit in der Bussanger Theatertradition tief verankert. Davon zeugt der Skandal, den der Regisseur Jean-Claude Berutti 2000 auslöste, als er bei seiner Inszenierung des Stückes von Peter Handke Das Mündel will Vormund sein auf die Öffnung der Bühnenrückwand verzichtete und schließlich dem Druck von Kritik und Publikum nachgeben musste: eine umso erstaunlichere Situation, als Maurice Pottecher zeitlebens nie versucht hat, eine solche Tradition durchzusetzen.  

Das Bühnenbodengefälle (7%) entspricht dem natürlichen Gefälle des Hanges.  Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem das Bauwerk siebenmal von Bomben beschädigt wurde, wurde der Zuschauerraum mit dem gleichen Gefälle neu gestaltet, wodurch nicht nur eine symmetrische Spiegelwirkung, sondern vor allem auch eine bessere Bühnensicht erzielt wurde.

Die Spielzeiten sind seit der Theatergründung unverändert geblieben. Ursprünglich wurde ein einziges Stück gezeigt. Aufführungsbeginn war um 15 Uhr und die Vorstellung dauerte etwa drei Stunden. Dies sicherte zwar die Ausnutzung des günstigsten Tageslichts bei Öffnung der Bühnenrückwand, hatte aber auch einen praktischen Grund. Die meisten Zuschauer fuhren nämlich um 14 Uhr 30 mit dem Zug in Bussang an und mussten um 18 Uhr 30 zurückfahren. Die aufgeführten Stücke mussten also den Nachmittag füllen.  

 

Eine ungebrochene Dynamik

  • Maurice Pottechers Nachfolge

Maurice Pottecher verfasste und inszenierte seine Theaterstücke selbst. So bestand jahrelang das in Bussang gespielte Repertoire ausschließlich aus Werken des „Padre“ (so wurde Maurice Pottecher im Dorf genannt).

Sein erster Nachfolger und Schüler, Pierre Richard-Willm, setzte die Tradition der Inszenierungen von Stücken Pottechers fort. Erst 1971 wurde zum ersten Mal ein klassisches Stück aus dem französischen Repertoire, Molières Médecin malgré lui – Der Arzt wider Willen- von Yanek, dem damaligen künstlerischen Leiter, inszeniert. Tibor Egervari, der das Theater von 1972 bis 1985 leitete, brachte weiterhin Werke Pottechers auf die Bühne, weitete aber das Repertoire mit Stücken von Shakespeare, Hugo, Labiche aus. Ihm folgten u.a. Pierre Diependaële, Pierre-Etienne Heymann, Philippe Berling, Jean-Claude Berutti, Christophe Rauck, Pierre Guillois und seit September 2011 Vincent Goethals.

Heute bietet das Repertoire des „Théâtre du Peuple“ eine große Auswahl an Texten und Inszenierungen; neben den traditionellen Nachmittagsaufführungen gehören nun auch Abendvorstellungen zum Programm.

Das Theatermotto ist nach wie vor aktuell. Seit seiner Gründung sind alle Theaterliebhaber, ob Profis oder Laien, die eigentliche Treibkraft des „Théâtre du Peuple“.

Zur Aufrechterhaltung dieses Erbes hat sich der Verein Association du Théâtre du Peuple „das Einspielen und die Aufführung von Bühnenwerken unter der Leitung von Berufsregisseuren, die Ausbildung von Laienschauspielern und die Förderung vom regionalen Laienschauspiel“ zum Ziel gesetzt.

  • Heutiger Betrieb

Das „Théâtre du Peuple“ betreuen ganzjährig ein Vorstand, ein künstlerischer Leiter und Hauptregisseur (von dem Verein für eine Amtsdauer von drei Jahren gewählt, mit Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl), ein ständiges Verwaltungsteam und ehrenamtliche Mitglieder. Deren Arbeit wird während (aber auch außerhalb) der Sommersaison von Zeitpersonal oder von Praktikanten im technischen, administrativen oder künstlerischen Bereich unterstützt.   

Da es nicht geheizt werden kann, ist das Theater nur in den Sommermonaten betriebsfähig. Selbst dann wird den Zuschauern empfohlen, warme Kleider und Kissen (wegen der harten Holzbänke) mitzubringen.

Im Laufe des Sommers werden außer den Nachmittagsvorstellungen und den Gastspielen auch Theater-, Gesang- oder Tanzseminare mit abschließender Präsentation vor Publikum angeboten. 

 

Übersetzung ins Deutsche: Yvain Vitus